Seit Jahren findet in der Europäischen Union zum einen ihre Vergangenheit (brachte Frieden, Stabilität, Wohlstand und gemeinsame Werte), zum anderen ihre Probleme (Brexit, Bürokratie, Migration) eine breite öffentliche Rezeption statt. Allerorts herrschen in Bezug auf die Zukunft der Gemeinschaft Ratlosigkeit, Zweifel, Misstrauen und langsam auch die drängende Erkenntnis, dass die Stellschrauben zur Wahrung der Einheit besser gestern als heute hätten gestellt werden müssen.
Darauf reagierte die Europäische Kommission im März mit der Veröffentlichung des „Weißbuchs zur Zukunft Europas“ und diversen weiteren Diskussionspapieren zu einzelnen Politikbereichen.
Im Weißbuch werden fünf Strategien vorgestellt die zeigen sollen, wie die EU in Zukunft gestaltet werden kann. Zur Diskussion stehen dabei die Optionen „Weiter wie bisher“, „Schwerpunkt Binnenmarkt“, „Wer mehr will, tut mehr“, „Weniger, aber effizienter“ und „Viel mehr gemeinsames Handeln“.
Ziel des Dokuments ist es Räume für eine breite gesellschaftliche Debatte zu schaffen und dort vor allem die UnionsbürgerInnen einzubeziehen.
Um an das Diskussionspapier anzuschließen wurde im Juni im Landtag ein Antrag der Grünen beschlossen, der dazu aufforderte eine Expertenanhörung durchzuführen, in der thematisiert werden sollte welche Rolle Bayern in der EU und welche Auswirkungen dieselbe auf Bayern, laut Weißbuch, zu erwarten sei. Diese Sachverständigenanhörung fand nun am 27. Oktober im Landtag statt.
Eingeladen waren Gabriele Bischoff (Vorsitzende der Arbeitnehmer im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und Deutscher Gewerkschaftsbund, Bundesvorstand, Berlin), Prof. James Davis, Ph. D. (Direktor des Instituts für Politische Wissenschaften, Universität St. Gallen), Oliver Dreute (European Political Strategy Center, Europäische Kommission, Brüssel), Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest (Präsident des ifo Instituts – Leibnis-Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.) und Dr. Angelika Poth-Mögele (Executive Director European Affairs des Rates der Gemeinden und Regionen Europas, Brüssel).
Diese bewerteten im Allgemeinen positiv, dass das Weißbuch, die Rede Junckers zur Lage der Union und die Grundsatzrede Macrons zu EU-Reformen tatsächlich weiterführende Debatten angestoßen hätten. Dies sei die Gelegenheit von der alle Mitgliedsstaaten Gebrauch machen müssten, um die Zukunft Europas aktiv mitzugestalten.
Dennoch wurde während der Anhörung einige Kritik am Versuch der Kommission geübt: Zuvörderst stünden auch dort wieder die EU-Institutionen, statt der UnionsbürgerInnen selbst, im Zentrum. Das andere große Problem des Weißbuchs sei der geringe Differenzierungsgrad. Beispielsweise suggerierten die skizzierten Strategien, dass die EU bei null anfange. Dabei sei eine umfassende objektive Abwägung, was derzeit schon gut oder was nicht funktioniere ein wichtiger erster Schritt. Zudem werde den nötigen Kompromissen und Abwägungen – den Zusammenhängen zwischen verschiedenen Politikbereichen – keine Rechnung getragen. Ein Beispiel hierfür ist der Zusammenhang zwischen Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik: Entschiede man sich, wie im Weißbuch vor allem in Szenario vier und fünf dargelegt, für eine Verstärkung der Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik, um diese effizienter zu machen, könnte es dazu kommen, dass weniger Waffeneinkäufe getätigt würden, worunter der europäische Wettbewerb leiden könnte.
An solchen Punkten seien ganz klar politische Entscheidungen gefragt. Deshalb handele es sich bei den vorgestellten Optionen weniger um Szenarien, die die Umwelt und treibenden Entwicklungen zeigen in den sich die EU behaupten müsse, als um politische Strategien, bei denen es gelte aktiv Entscheidungsprozesse anzustoßen.
Zuletzt erwecke das Weißbuch, trotz seiner Ausrichtung auf die Einheit der EU27, den Anschein tiefgreifender Ratlosigkeit – ein Eindruck dem man sich beispielsweise der ernsthaft vorgestellten Option „Weiter wie bisher“ zur Folge nur schwer erwehren kann.
Abschließend wurde thematisiert welche Schritte die Sachverständigen als maßgeblich für das Gelingen des europäischen Projekts ansehen.
Dabei taten sich drei Bereiche besonders hervor:
Letztendlich sei der Grundsatz der Subsidiarität entscheidend dabei, dass Verordnungen, Richtlinien und Verwaltung verhältnismäßig und effizient umgesetzt würden.
Ohne eine nachhaltige Umsetzung gemeinsamer Prinzipien der Union, sei aber auch ein solcher Versuch zum Scheitern verurteilt.
Dem gegenüber verblieben die Sachverständigen vor allem was die geplante Stärkung der sozialen Dimension der EU betrifft kontrovers.
Was letztendlich auch die Sachverständigenanhörung im Landtag zeigte war, wie leicht es ist sich in Debatten, die die EU zum Thema haben, schnell in Einzelheiten und Detailfragen zu verlieren. Daraus lässt sich zumindest das eine mit Gewissheit ableiten, nämlich dass in Zukunft vor allem viel mehr Energie darauf verwendet werden muss UnionsbürgerInnen zu ermächtigen und zu Gestaltern und Gestalterinnen des Gemeinschaftsprojekts zu machen.